Leseproben für „Wenn das Leben Fahrt gewinnt“
Anekdote
Auf einem Spaziergang durch das Altmühltal lerne ich eines schönen Tages Felicitas Laudin kennen. Frau Laudin ist gestolpert, ich springe hinzu und helfe ihr auf die Beine. Dann kommen wir ins Gespräch. Sie stellt sich mir vor, also tue ich ihr nach. Zunächst sind es belanglose Worte über das Wetter, das immer für ein Gespräch zu haben ist. Dann kommt schwupp die wupp die Dorfpolitik aufs Tapet und ich bemerke, Frau Laudin liebt den Aphorismus ähnlichen Stil! Knallhart und eisig kalt. Ich stutze und frage mich, soll er mich vom Miteinander trennen? Hundert Gedanken blitzen auf. Wie soll ich mich verhalten? Soll ich sie alleine weitergehen lassen?
Ein Mann mittleren Alters kommt uns entgegen, bleibt bei uns stehen, fragt nach der Uhrzeit und Frau Laudin sagt: „Warum fragen Sie? Haben Sie keine Uhr dabei? Das ist leichtsinnig, überaus leichtsinnig Verehrter, ich sage Ihnen nicht, was meine Uhr anzeigt.“ Sie geht weiter und lässt uns stehen.
Wir schauen uns an, wir beiden Fremdlinge. Ich schaue auf meine Uhr und stelle merkwürdigerweise fest, sie ist stehengeblieben.
„Stehengeblieben? Wie kann das denn sein, ist die Batterie zu Ende?“ Ich überlege, wann ich sie gekauft habe. Ich schaue auf und sehe, der Herr ist weitergegangen. Hat er gedacht, ich will ihm die Uhrzeit nicht sagen?
Eigenartig, verrückte Begegnungen, irre Gespräche und so schönes Wetter. Zufällig steht neben mir eine Bank, ich setze mich kurzentschlossen und schaue in den herrlich blauen Himmel.
Gegenüber fließt die Altmühl. Eine Amsel sitzt auf einem Stein wie auf einer Insel und zwitschert vergnügt ihren Song.
„Du hast Recht“, sage ich zu ihr. Da erst bemerkt sie mich. Sie schaut mich an. Plustert sich und fliegt husch davon.
War das nett, ein fantastischer Ausgleich zu den Erlebnissen von eben.
Ich schaue erneut auf meine Uhr und stelle zu meiner größten Überraschung fest, sie geht wieder. Warum war sie stehengeblieben? Hat sie Menschenverstand?
Man kommt an manchen Tagen aus dem Staunen nicht heraus! Mir gehen die Worte von Karl Valentin, die ich morgens vom Abreißkalender gelesen hatte, durch den Kopf. Ich grinse vor mich hin und überlege, ob Frau Laudin heute unter Unwohlsein leidet. Kann sein! Oder dass ihr der Kaffee nicht bekommen ist! Vielleicht trinkt sie zuhause neben Kamillentee wechselweise auch Schafgarbentee, ein Kräutergetränk für nervöse Magennerven oder schlechten Schlaf. Es hat halt jeder was.
Dann frage ich mich, warum ging der Herr weiter? Warum wartete er nicht auf meine Antwort?
Nachmittags treffe ich im Hotel mit besagtem Herrn im Flur zusammen. Wir staunen beide, schauen uns vielleicht einen Moment zu lange an, wobei ich in ihm einen alten Schulkameraden erkenne.
„Horst Schmidt? Du hier? Wirklich?“
Und dann erkennt er mich und sagt: „Ja, Marlies, ich hatte Heimweh nach Bayern. Hier habe ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht! Ich kehre zurück, verstehst du das?“
„Gewiss, gewiss, das kann ich gut begreifen… Erinnerungen werden wach! Wenn es mir hier gefällt, bleibe ich auch… „Welt ist überall“, sagte meine Großmutter. Ich finde, hier ist sie liebenswert hinreißend. Das Wetter ist einladend, ich werde mich draußen aufhalten und übermorgen weiß ich mehr, wir sehen uns zum Abendessen?“
Zeitnah…
Moritz und Bella Keller sitzen am Frühstückstisch und sehen gerade einen Umzugswagen vor ihrem Haus halten. „Weißt du wer umzieht? Hier in unserem Viertel?“
Bella schenkt Kaffee ein und fragt interessiert ihren Moritz, der gelassen sein Brot mit Butter bestreicht.
Eben schlägt die Kirchenuhr 8mal. Das Radio ist eingeschaltet und die Nachrichten beginnen mit einer verhängnisvollen Nachricht. „Pst“, raunt Moritz zwischen zwei Bissen…
„…um 22:00 Uhr gestern Abend schoss ein Mann vor dem Museum „Ferdinands Bunte“ in der Bremer Straße, wo zurzeit ein Musikfestival stattfindet, in die Menschenmenge.
Wie die Polizei erfuhr, ist der mutmaßliche Schütze ein hiesiger Bürger. Was ihn zu dieser Tat veranlasste, muss ermittelt werden. Fünf Menschen, zwei Frauen und drei Männer wurden getötet. Der Polizeipräsident wird im Laufe des Tages eine Pressekonferenz abhalten.“
„Mein Gott“, sagt Bella, „ist man denn nirgendwo mehr sicher? Mal schießt der IS…, diese Irrlichter haben unser Land im Griff und jetzt spielt ein Einheimischer verrückt. Ich bin gespannt, was hinter der Tat steckt! Schießt in die Menschenmenge, die sich freute und lachte. Ich bin erschüttert. Wir hätten auch Zuhörer sein können, wenn du nur gewollt hättest. Gut, dass wir nicht gegangen sind.“
Das Telefon. Bella meldet sich. „Bella Kel… ja, Karl, da hast du vollends Recht. Wir leben in einer aufgewühlten Zeit. Man hat Angst, die Straße zu betreten, dabei zeigen wir, dass wir angreifbar sind. Wir müssen unsere Werte verteidigen, wir müssen die Demokratie verteidigen. Wir müssen ihnen allen die Zähne zeigen, sag das deinen Kindern, Karl. Wir alle müssen mutig sein. Du, ich gebe dir Moritz… Karl ist am Telefon, bitte, er will mit dir sprechen.“
„Karl, so früh schon, was gibt’s? Was? Oh Gott Karl, ich geb‘ dir Bella, ach Karl…“
Bella will aus der Küche gehen da sagt Moritz: „Bella, bitte.“
Sie dreht sich um, sie ist fast wachsbleich im Gesicht, ahnungslos nimmt sie den Hörer und sagt „Karl…?“
„Bella, Marianne ist gestern Abend…, sie ist tot, unser Kind ist tot, Hilde liegt noch im Bett und weint sich die Augen aus, Bella? Was sollen wir tun?“
„Karl, ich komme sofort zu euch…“
Sie schaut Moritz an. Die Farbe in ihrem Gesicht kommt zurück, sie fasst sich, das merkt Moritz sofort. Bella, die Mutige darf in diesem Moment nicht versagen. Immer und bei jeder Gelegenheit hat sie das Ruder geführt und sie besinnt sich auch in diesem Augenblick Haltung zu bewahren.
„Ich muss zu Hilde…“
Sie rennt in den Flur und Augenblicke später hört Moritz sie aus dem Haus eilen.
„Marianne“, flüstert Moritz vor sich hin, „24 Jahre wäre sie morgen geworden, 24 Jahre!“
Für nächste Woche ist die Hochzeit mit Jürgen Bethmann eingerichtet! Warum? Lieber Herrgott, warum hast du sie sterben lassen? Und Jürgen? Was ist mit Jürgen? Waren sie zusammen dort? Nein, das kann nicht sein, er kommt erst heute aus Afrika zurück. Er wird erschrecken, wenn er die Nachricht erhält. Marianne tot, seine Marianne…
Was ist geschehen hier in unserem Land? Wieder ein IS Angriff? Und jetzt in Barcelona, mitten auf der Rambla, der beliebten Flaniermeile der hübschen, sonnigen Stadt. Nimmt das gar kein Ende mehr?
Mit der Pressekonferenz um 13:00 Uhr wird bekanntgegeben: Nathan Buber und Gilian Leo, beide 18 Jahre alt aus Jerusalem,
Katina Simon, 22 Jahre alt aus Warschau,
Marianne Müller, 24 Jahre alt, ortsansässig und
Janosch Heisig, 35 Jahre alt, aus Heidelberg sind die Toten.
5 Menschenleben sind ausgelöscht. Warum?
Am nächsten Tag bringt die Zeitung ausführlichere Nachrichten.
Die Namen der Verstorbenen stehen fettgedruckt auf der ersten Seite. 5 Menschen, mitten im Leben stehend, sind diesmal die unschuldigen Toten. Was war der Anlass für diese Tat?
In den nächsten Tagen präsentiert die Boulevardpresse detailliert die Lebensläufe der Betroffenen. So ist zu lesen:
Nathan Buber und Gilian Leo, Israelis, beide 18 jährig, Abiturienten, kamen aus Jerusalem, hatten sich vor Tagen an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität in Frankfurt eingeschrieben und wollten Geologie bzw. Geophysik studieren. Beide leben nicht mehr.
Katina Simon, 22 jährig, Pflanzentechnologin und ihr Freund Sima Kepler, 23 jährig, Steinmetz aus Warschau, beabsichtigten ihre Sommerferien in Deutschland zu verbringen. Katina lebt nicht mehr.
Marianne Müller, 24 jährig, Krankenschwester, die am Sonnabend der kommenden Woche heiraten wollte, hatte mit ihrer Schwester Zita, die verwundet ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, das Konzert besucht. Sie lebt nicht mehr.
Janosch Heisig, 38 jährig, Orthopäde aus Heidelberg, hatte mit seiner Frau Kora, die als Hebamme im Marienhospital in Heidelberg arbeitet, das Konzert besucht. Er lebt nicht mehr.
Jeder Einzelne war mit Freude gekommen und hatte am Open Air Festival teilgenommen.
Der Schütze dieses Massakers ist der hiesige Ronald Baumgartner, 48 Jahre alt, verheiratet mit der Türkin Selma Senjat.
Er ist am 15.04.1969 in Tübingen geboren, hat die Volksschule besucht und das Abitur mit guten Noten absolviert. Danach begann er die Buchdruckerlehre und arbeitete 10 Jahre bei einer Zeitung. In dieser Zeit lernte er die Journalistin Selma Erdoloen kennen. 1992 haben sie geheiratet. Seine Frau ist bis zur Niederkunft des Sohnes Adrian berufstätig gewesen. Tochter Lale kam ein Jahr später zur Welt.
Die Familie lebte unbescholten. Nichts deutete auf Verdruss und Beschwerden hin. Sohn Adrian, 19 Jahre alt, ist zurzeit wegen eines fraglichen Deliktes im Gefängnis. Tochter Lale ist vor einem Jahr zur Oma nach Istanbul gezogen und arbeitet als Schneidermeisterin in einem renommierten Bekleidungshaus.
Als Sohn Adrian sein Abitur bestanden hatte, besuchte er seine Großmutter in Istanbul. Er blieb, wie zuhause besprochen, 6 Wochen in der Türkei und besuchte die Verwandtschaft. Nach seiner Rückkehr, so sagen die Eltern, bemerkten sie Veränderungen in seiner Verhaltensweise. Diese genau zu beschreiben, fiel ihnen schwer. Mal verhielt er sich wie gewohnt, mal wählte er in seinen Unterhaltungen Worte, die ihnen vorher nicht aufgefallen waren. Abends ging er zu Freunden, ab und an blieb er länger aus, ab und an kam er erst am nächsten Tag nach Hause. Stellte ihn der Vater zur Rede, antwortete er: „Ich bin doch 18 Jahre alt, darf ich nicht mal ausbleiben Vater?“
„Gewiss, gab er ihm zur Antwort, „schließlich müssen wir, deine Mutter und ich, begreifen: Du hast die Volljährigkeit erlangt. Du weißt, dass du vollverantwortlich für das bist, was du sagst und tust.“
Die Eltern sind zum Amtsgericht beordert worden und erzählen ausführlich über die Kindererziehung. „Unsere Kinder sind ehrlich und aufgeschlossen erzogen, wir haben volles Vertrauen in sie. Adrian ist ein vernünftiger, guter Mensch.“
Er hat sich entschlossen Journalistik zu studieren und ist nach Berlin gezogen. Nun ist er uns davongeeilt. Wir telefonieren miteinander, aber häufig treffen wir ihn nicht an. Es vergehen oft mehrere Tage, dann überrascht er uns und ruft abends oder am frühen Morgen an. Auf die Frage, „jetzt rufst du schon an?“, reagiert er nicht, aber wir sind einfach froh, wenn er am Apparat ist. Wir besuchen ihn in Berlin und freuen uns, ihn ein paar Tage begleiten zu können. Wir sprechen über seine Besuche in der Türkei, über die Verwandtschaft. Er erzählt Begebenheiten mit seinen beiden Cousins. Die Weltanschauungen der beiden haben ihn stutzig gemacht. Er meint: Die beiden sind Hinterwäldler. Sie haben sich mit ihm über ihr Land, die Leute, die Nachbarn usw. unterhalten. Er meint zu uns, sie haben ihm Merkwürdiges anvertraut. Sie haben ihn nach Deutschland befragt, sich nach der Religion erkundigt. Sie haben erzählt, dass sie wöchentlich das Freitagsgebet aufsuchen und wollten wissen, ob er ebenfalls am Freitagsgebet teilnehme.
Er erzählt, dass der 18 jährige Hassan von einer ehemaligen Spielkameradin schwärmte. Bruder Kemal, ein Jahr jünger, habe gewitzelt, sie bloßgestellt und bespöttelt. Das habe Hassan geärgert und die Auseinandersetzung sei knapp an einer Schlägerei vorbeigegangen. Kemal habe ein tolles Gespür, Hassan auf die Palme zu bringen. Das habe er mehrmals beobachtet. Und er meinte:
„Eigentlich sind die beiden wie Hund und Katze.“ Wir saßen zusammen an der Spree und Adrian war voller Enthusiasmus beim Erzählen über die Tage seines Besuches in der Türkei.
„Mir fiel die Neugier von Hassan und Kemal auf und ich bin sicher, sie sind neidisch auf uns, weil wir in Deutschland leben.“ Das sagte er zum Abschluss.
Ein Jahr ist vergangen. Der Arbeitgeber von Ronald Baumgartner kommt in Bredouille. Die Gewerkschaften schalten sich ein. Trotzdem werden Leute entlassen. „Bis dahin hatte ich mich sicher gefühlt“, erzählt er. „Aber eine Woche später erhielt auch ich die Kündigung. Ich fiel, gelinde gesagt, aus allen Wolken. Mehr als 50 Kollegen waren entlassen worden und ich saß mit ihnen auf der Straße. Wir waren zu Arbeitslosen „gemacht“ worden, die man nicht mehr braucht. Die meisten, wie auch ich, waren über Jahre bei dieser Zeitung in Lohn und Brot gewesen.“
Was nun? Die Gewerkschaften versuchen nach wie vor zu helfen, aber das Zeitungsterben ist nicht aufzuhalten.
„Ich schrieb“, so erzählt er, „Bewerbungen, Tag für Tag und bekam keine Antwort. Was ich an Arbeitslosengeld bekam, reichte kaum für Miete und Ernährung.“
Warum unser Sohn eingekerkert ist, hat uns nach Wochen sein Rechtsanwalt Dr. Peter Semper erläutert. Von der Türkei war beim hiesigen Amtsgericht ein Beschluss eingegangen, dass Adrian den Tod von Sebelli Azkar herbeigeführt habe.
Unser Sohn Adrian wird beschuldigt?, fragten wir den Juristen. Er legte uns Schriftstücke aus der Türkei vor, die genau diesen Vorwurf bestätigten. Der Jurist hat inzwischen mit Adrian gesprochen. Adrian hat ausführlich die Begegnung mit seinen Cousins geschildert, den genannten Tag der Belästigung dargelegt. Er hat keine Vorstellung, was er mit der Sache zu tun haben soll. Er habe weitab gestanden und eigentlich kein Wort verstanden. Weshalb sie mit dem Mädchen aneinander geraten seien, habe er nicht kapiert, da sie ohnehin Dialekt sprachen. Er habe sich nur gewundert, dass sie laut wurden; das Mädchen habe auch nicht geschwiegen und sich entsprechend geäußert. Da er ein Ende der Auseinandersetzung nicht habe voraussehen können, habe er sich entfernt. Er sei am Strand bis zum Haus der Verwandten zurückgelaufen.
Es war ein warmer Sommerabend. Onkel und Nachbarn saßen zusammen im Garten und unterhielten sich. Er habe sie begrüßt und der Onkel habe ihn eingeladen, sich dazu zu setzen. Nach seinen Cousins habe er sich nicht erkundigt, das habe ihn erstaunt. Er habe sie nachts nicht nach Hause kommen hören. Am nächsten Morgen habe ihn der Onkel geweckt. Er sei sofort aufgestanden und habe mit ihm gefrühstückt. Anschließend sei er zur Bushaltestelle gegangen und zur Großmutter gefahren. Nach den beiden Cousins habe ihn der Onkel auch nach dem Frühstück nicht befragt. Das habe ihn gewundert.
Mehr könne er nicht sagen, seine Aussage entspreche der vollen Wahrheit.
Und nun ist diese entsetzliche Tat geschehen. Selma Baumgartner ist als Journalistin in Berlin unterwegs und hört in ihrem Hotelzimmer die Radionachrichten. Zunächst hat sie nur mit halbem Ohr hingehört, aber dann hört sie den Namen ihres Mannes und… Sie lässt sich fallen, wo sie steht. Sie schlägt die Hände vors Gesicht. Sie reißt die Augen auf. Sie ist sprachlos. Ihr Mann Ronald soll diese Tat begangen haben? Ronald, Ronald, das kann doch nicht sein. Er, der Vernünftige, der Geduldige? Er soll diese Tat begangen haben?
Sie wählt sofort seine Handynummer und gleich wird geantwortet: „Hallo, hallo, wer ist da? Bitte nennen Sie Ihren Namen, bitte.“
„Ich bin Selma Baumgartner, ich rufe aus Berlin an, bitte was ist passiert? Ich höre eben Nachrichten und den Namen meines Mannes Ronald Baumgartner, bitte sagen Sie mir: was ist passiert?“
Der Polizist am anderen Ende sagt lediglich: „Bitte kommen Sie sofort nach Hause. Wir müssen mit Ihnen sprechen, es ist akut, wir erwarten Sie noch heute.“
Anni vornweg auf der Seine-Reise
Sie kann sich gut an diesen Tag erinnern. Auf der Speisekarte standen Austern aus der Bretagne und ohne zu zögern, hatte sie sich diese bestellt. Indessen war ein Herr an ihren Tisch getreten und hatte gefragt, ob er sich dazusetzen dürfe. Fast schüchtern hatte er die Worte gesprochen. „S’il vous plaît“, hatte sie geantwortet. Sie saß bis dahin alleine am Tisch und er hatte sich gegenüber gesetzt.
Es war sommerwarm. Er hatte ein kleines Ledertäschchen dabei, schwarzes Nappa, sehr geschmackvoll fand sie. Er legte es vor sich auf den Tisch.
Inzwischen war die Bedienung gekommen und hatte einen Teller Austern vor sie gestellt, 6 an der Zahl und mit „bon appetit“, wobei sich der Herr anschloss, war die Serviererin weitergegangen.
Sie hatte ihr Glas Weißwein gehoben und mit merci dankend einen Schluck getrunken. Es war vin blanc aus dem Medoc gewesen.
„Très bon“, hatte der Herr gewünscht und hinzugefügt: „Das wird auch mein Mahl werden.“ Er hatte die Bedienung gerufen und bestellt. „Six huitres für mich“, waren seine Worte gewesen.
Colette hatte ein Körbchen mit pain erhalten und zu essen angefangen. Nach wenigen Minuten war dann auch ihr Gegenüber bedient worden und sie hatte mit “bon appetit” geantwortet.
Beide beim Genießen, versuchte der Herr ein Gespräch. Colette war angetan, von dem was er sagt und, vor allen Dingen, wie er sprach, sie hörte ihm zu.
Das Lokal ist gut bekannt in diesem Viertel. Die Gäste kommen scharenweise von ihren Arbeitsplätzen hierher, aber auch am Abend ist regelmäßig Hochbetrieb. Was auf der Karte steht, ist preislich und appetitlich interessant.
Die Einrichtung ist hervorzuheben. Die Vorhänge sind mit den Polstern von Sofa und Stuhl harmonisch abgestimmt. Dunkelblau/ hellblau ist dominierend, weiß im Kontrast und mit der Tischwäsche sehr ansprechend, findet es jedenfalls Colette. Sie sitzt gerne hier, es hat etwas von Meer, von “Draußen sein”, von Urlaub…
Da Colettes Mittagspause bis 13.30 Uhr dauert und der Uhrzeiger gerade weiterrückte, verabschiedet sie sich. Sie muss sich beeilen, denn sie hat um 14.00 Uhr einen Termin mit dem Verwaltungschef, Monsieur Grand.
Dafür muss sie noch verschiedene Papiere aus älteren Akten zusammenstellen. Die will er sich noch einmal zu Gemüte führen, wie er ihr gesagt hatte.
Monsieur Grand ist ein strenger älterer Herr und niemand will Ärger mit ihm haben, auch sie nicht. Besser ist es, pünktlich zu sein. Über die Mittagspause von heute denkt sie nur ein paar Minuten nach, denn die Zeit drängt.
Das Schiff ist inzwischen abgefahren. Es geht auf Abend zu und Anni ist mit ihrem Hans zum Aperitif in die Bar gegangen. Da sitzen sie nun und schauen sich die Getränkekarte an.
„Was möchtest du trinken?“, fragt Hans. „Ich bin für einen Cocktail.“
„Prima“, sagt Anni, „die Namen klingen so verheißungsvoll, ich bin für “French Metropolitan.”
„Und ich“, sagt Hans, „trinke die “Catherine”, ein Mix aus Calvados, Cointreau und Orangensaft“.
Das ist doch ein Auftakt. „Hallo“, ruft er dem sich nähernden Garçon zu. Er eilt zu ihnen.
Hans hält die Karte hin und zeigt auf die Getränke, die sie beide wünschen. „Diese beiden für uns, bitte“.
„Sofort meine Herrschaften…“.
Und nun nippen sie an ihren Gläsern. Lächeln sich an! Fühlen sich wie “Weltreisende” auf einem anderen Stern.
„Edel, edel, ich bin selig. Ich bin auf der Seine. Hans, sag doch mal was“…
Der Gong erschallt. „Was war denn das? Schon der Aufruf zum Abendessen? Ich schütte das nicht einfach runter, ich brauch meine Zeit“, sagt Anni.
Ein Viertelstündchen ist vergangen und Hans ist dafür, dass sie losziehen. „Steh auf Anni oder bist du am Träumen“?
Sie steht auf und schwankt auf ihren ungewohnt hohen Absätzen mit Hans aus der Bar hinaus, wo sie auf Monika und Philipp treffen.
„Ihr seid schon in der Bar gewesen? Ihr seid ja ein lustiges Paar“.
„Und ihr“, sagt Hans, „habt euch herumgedrückt. In welche Ecken habt ihr euch getraut?“
„Also Ecken, wollt ihr Ärger?“
Philipp, der heitere Bursche, schlendert vorneweg, guckt sich um und ist beeindruckt von dem Ausblick aus dem fahrenden Schiff. Das Schiff bewegt sich sachte vorwärts. Die Landschaft und die eleganten Häuser, die älteren Prachtbauten wirken grandios.
„Geh doch weiter zum Tisch“, flüstert Monika.
„Ich suche ihn“, gibt Philipp zurück.
Vor ihnen im engen Gang zwischen den Tischen ist Bewegung. Die Gäste suchen die Tische und endlich haben sie ihren gefunden. Ein großer ovaler Tisch, zum Teil besetzt.
Zwei von ihnen müssen auf die andere Seite. Endlich sitzen sie mit lachenden Gästen aus Bayern zusammen. Aus der Rundung des Ovals links erklingen sächsische Laute.
Eine bunte Mischung Deutschlands hat sich scheinbar hier versammelt. So lernt man sich kennen, wenn man noch nie in Sachsen war!
Der Kellner kommt, ein Asiate, sehr freundlich! Strahlend tritt er an den Tisch und nimmt die Bestellungen an. Bei jedem Gedeck liegt eine Speisekarte. Drei verschiedene “Begrüßungs-Abendessen”, Fisch, Hase, Rind. Käse als Nachtisch oder ein buntes Dessert aus der Karibik.
Sie Vier und alle Gäste am Tisch haben sich schnell entschieden. Wahrscheinlich waren sie fast verhungert, nun essen sie. So ist der Mensch nicht nur in Hessen, nein, auch unterwegs.
Wer Knoblauchsoße wünscht, bitte. Wer Bratensoße wünscht, na bitte. Die Bayern lieben wohl Soßen und der Hesse schwört mittlerweile auf Knoblauch. Vielleicht hängt das mit den vielen Türken zusammen, die in Hessen arbeiten und wohnen, integriert sind. Weinflaschen finden auch noch Platz auf dem Tisch.
Der eine oder andere zieht Wasser vor, die Bayern ihr Bier. Von Ruhe kann man nicht sprechen, leichtes Akkordeon klingt mit Seemannsweisen. Gemurmel von den Nachbartischen, der Saal ist gefüllt mit „Menschen“…, eben.
Die Jahreszeit ist ideal für die Tour, draußen blüht es so bunt wie in Hessen. Das muss man bewundern und sich daran erfreuen, weil es zur Reise dazugehört.
Die erste Nacht ist vorüber. Abends nach dem Essen war die Besprechung, wie und was heute geplant ist, wie man sich zu verhalten hat, wenn man mit dem Bus Rundreisen unternimmt. Jeder musste sich konzentrieren.
Der neue Tag beginnt mit unterschiedlichen Programmen. Diejenigen, die einen Ausflug gebucht haben, sollen nach dem Frühstück Punkt 9:00 am Ausgang stehen.
Das Restaurant ist seit 7:30 Uhr geöffnet. Frühaufsteher wollen Kaffee trinken. Es ist wie es ist, der Mensch ist schon lange durchschaut!
So ein Programm muss abgestimmt sein und hier scheint es zu stimmen. Die Getränke werden zu den Tischen gebracht. Übrige Wünsche kann sich jeder am Büfett selbst erfüllen.
Es ist eine reiche Auswahl an Gebäck, Käse, Wurst, Schinken, Obst, Butter, was auch immer. Eigentlich dürften keine Wünsche unerfüllt bleiben. Tomaten, Gurken, geräucherter oder in Öl eingelegter Fisch, man kann schwelgen! Zuhause wird man noch lange darüber nachdenken.
Um 9.00 Uhr legt das Schiff in Conflans-Sainte-Honorine an. Wer sich entschieden hat, kann zu den Gärten von Claude Monet in Giverny fahren.
Alles läuft nach Plan. Im Omnibus werden die angepeilten Kontakte vertieft, die sich gestern schon gleich anbahnten. Mehrere Damen als auch Herren sind solo. Es ist laut im Bus, bis ein Klingelton ertönt und eine Dame sich als Reiseleiterin vorstellt.
Augenblicklich ist es still geworden. „Ich bin Jeanne, bitte sprechen Sie mich mit meinem Vornamen an, dann reagiere ich.“
Sie gibt Tipps, damit jeder Bescheid weiß.
Philipp hört genau zu und kann sich später erinnern, dass nicht nur der Garten, sondern auch das Haus besichtigt werden kann.
„Also das Wohnhaus“, „möchte ich unbedingt betrachten“, sagt Monika.
Das Ziel ist erreicht, der Bus hält und alle steigen aus. Der Garten ist zunächst allen wichtig. Alles ist am Blühen. Der Blütenstaub liegt auf dem Teich, ihn fast bedeckend. Das ist schon schade, weil man die Goldfische nicht sieht… oder sind keine drinnen?
Kleine Brücken führen über den Teich, man kann hin und her laufen, zauberhaft schön. An den Pfaden entlang hohe Stauden, das Gemüsebeet ist perfekt in Ordnung.
„Es gibt viel zu tun in einem solchen weitläufigen Garten“, meint Philipp, „hier werden einige Gärtner beschäftigt sein.“
Das Haus wird ebenfalls von vielen Gästen besucht. Im Treppenhaus muss man anstehen. Viele wollen die Treppe hoch. Andere gehen hinaus in den Garten. Es ist eng mit den vielen Neugierigen.
Es stehen 5 Busse auf dem Parkplatz. Anni, seit Jahren Mitglied im deutsch-französischen Verein, nimmt zuhause regelmäßig Unterricht und spricht leidlich Französisch. Sie versteht, was sie auf dem Flyer liest.
„Das ist prima“, sagt Monika, „da kannst du uns Manches übersetzen.“
Im Salle de séjour steht ein großer eckiger Tisch, bedeckt mit einem Tischtuch aus echtem Leinen, das mit einer Spitze umrahmt ist. Blümchen in lichtem Blau sind aufgestickt, bildschön. Die Schränke sind recht hoch, geschnitzter Aufsatz, nobel, nobel.
Die passenden Stühle dazu stehen rund um den Tisch. In der Küche sticht der Herd hervor, die Vorderfront mit blau-weißen Fliesen. Der stammt bestimmt aus Delft. Er ist wunderschön bemalt. Eine große Herdfläche mit Wasserschiff ist zu bewundern.
Teller und Tassen hängen außen am Bord des Schrankes. Alles wird betrachtet und bestaunt. Der Blick aus dem Fenster in den Garten zeigt die Vielfalt des Anbaus.
„Das muss zu Zeiten Monets noch schöner gewesen sein“, sagt Anni im Vorbeigehen. Die Leute im Raum äußern sich mit Oh’s und Ah’s. Man kann nur beipflichten. Es ist schön hier.
„Übrigens“, sagt Hans, „Monet war verheiratet, aber eigene Kinder hatte er nicht. Seine Frau hat die Kinder mit in die Ehe gebracht. Eine glückliche Familie muss es gewesen sein.“
Und nun sind sie alle zum Mittagessen zurückgekehrt. Die köstliche Brühe schmeckt, die Fischmahlzeit à la Maître Christian ist der i-Punkt. Das süffige Tröpfchen aus Burgund ein Treffer.
„Heute Nachmittag gehen wir in Rouen ins Café, das schlage ich vor“, meldet sich Philipp. „Eine solche Reise darf auch mal in ein solches Etablissement führen.“
„Mal schauen, was sich der Franzose gönnt“, sagt Anni. „Ich werde mit dir gehen, Philipp, denn ich habe heute Früh meinen Armreif zwischen der Unterwäsche gefunden.“
Das wird belacht.
„Du musst ja eine besondere Kunst beherrschen, den Koffer zu packen“…, meint Philipp.
Abends gegen 17:00 Uhr sitzen Colette und Armand auf einer Bank an der Seine. Seit einer halben Stunde stockt die Unterhaltung. Zunächst war alles wie immer, aber plötzlich klingelt bei Armand das Handy und danach ist die Stimmung gelähmt. Colette hat das Gefühl, dass Armand nicht ehrlich zu ihr ist. Sie denkt im nächsten Moment an ihre verstorbene Großmutter.
Armand ist schweigsam geworden. Colette fragt ihn nach der Uhrzeit, denn sie hat gestern ihre Uhr beim Uhrmacher abgegeben und keine dabei.
Armand ist nicht bei der Sache. Colette betrachtet ihn und fragt: „Was ist mit dir Armand?“
„Was wolltest du wissen?“, fragt er zurück und plötzlich lacht er auf und versucht mit einem Witz die Situation zu retten.
Es geht auf 19:00 Uhr zu und er schlägt vor, im „Golden Sunset“ in der Rue de Belge zu Abend zu essen. Auf dem Weg dorthin verhält er sich wie stets.
Sie betreten das Restaurant, denn vor der Türe sind die Tische besetzt. Plötzlich klingelt wieder sein Handy und dieses Mal meldet er sich nicht. Er will, so hat Colette das Gefühl, nicht gestört werden. Aber wer ruft an? Colette ist unsicher und dann wischt sie den Gedanken mit: „Vielleicht hat es ja mit mir gar nichts zu tun“, innerlich weg.