Leseprobe für „Die nackte Wirklichkeit“
Ehrgeiziger?
Huerriyet, einzige Tochter der Eheleute Fleurette und Pasquier Eynde, hat mehr Ehrgeiz als einem Menschen förderlich ist. Von klein auf hat sie keine Angst vor großen Hunden, Schlangen, Mäusen oder Spinnen. Sie wollte Ballett tanzen, also ließ man sie die Ballettschule besuchen. Die Tanzlehrerin ist begeistert von Anfang an. Bald fördert man sie. Sie tanzt Einzel-Versionen im städtischen Theater. Die Besucher sind fasziniert. Sie bringt die Menschen ins wohlige Erstaunen, Menschen die leicht den Kopf hängen lassen. Huerriyet zeigt: Das muss nicht sein.
Sie ist auf den Titelseiten der großen Illustrierten. In Übersee wird man auf sie aufmerksam. Aus New York kommen Anfragen und sie tritt auf, wo man sie wünscht. Augenblicklich ist sie zurück in Belgien. Sie ist erpicht Neues zu probieren. Das hat sie angekündigt. Mehr hat niemand bis jetzt erfahren.
Vorige Woche ist sie 20 Jahre alt geworden. Das war ein großes Fest in ihrer Heimatstadt. Sie ist zu einer hübschen Person geraten. Der 18. Geburtstag mit Volljährigkeit ist für sie der alles entscheidende Höhepunkt gewesen. Sie hat sich zwar noch nie was „sagen“ lassen, aber seit sie 18 Jahre ist, hebt sie den Kopf höher.
Wenn sie vom Sommer träumt, sieht sie Klatschmohn, Wiesen, Wasser. Das Meer mit blauem Himmel. Sie sieht die lachende Welt. Sie hat eine hübsche Figur. Sie hat ein lebhaftes, liebes Gesicht. Man vertraut ihr leichter, als anderen. Schöne Menschen sind beliebter, warum eigentlich?
Sie hat sich etwas Bestimmtes in den Kopf gesetzt. Nicht nur ihre Schulkameradinnen hier im Ort sondern tatsächlich die halbe Welt ist gierig zu erfahren, was sie plant.
Die Drahtseilakte vorige Woche in Australien haben sie aufhorchen lassen. Sie sitzt am Kaffeetisch und liest die Meldung. Ein junger deutscher Akrobat, abgebildet in der Zeitung, wird von einer Masse Menschen ungläubig bestaunt. Er heißt Philipp Wagner und kommt aus Mittel-Deutschland. Seit einigen Jahren traut er sich mit körperlicher Gewandtheit in luftige Höhe. Die Balancier-Stange haltend, traut er sich immer mutiger werdend, Flüsse und Täler zu überqueren. Auch in einer deutschen Großstadt ist er von einem Turm zum anderen auf 170 m Höhe spaziert. Der Bericht schildert sein neues Seilkunststück über eine tiefe Schlucht.
Huerriyet legt die Zeitung beiseite. Sie steht auf und geht leger zur Toilette. Das ist der Platz wo sie ungestört sinnieren kann. Sie fragt sich: Warum immer nur die Männer in Vordergrund drängen, um bewundert zu werden. Warum nicht die Frauen?
Nur Mut Huerriyet, sagt sie sich. Ich will Freude machen. Ich will, dass sich die Menschen nicht ärgern. Dass sie entlastet und beruhigt mit mir fröhlich sind. Dass sie sich entspannen und lachen. Wenn alle miteinander mehr lachen würden, hätte das Schicksal keine Chance zu stören. Ich muss mehr riskieren. Ich werde es allen zeigen. Noch heute!
Ihre Mutter Fleurette ruft draußen im Flur. „Huerriyet, ich fahre zu Tengelmann, kommst du mit?“ „Nein, nein“, ruft sie zurück, „fahr nur.“
Ihr Vater Pasquier ist wie jeden Tag, morgens gegen 8:00 Uhr zu seinem Arbeitsplatz gefahren. Sie hört die Haustüre ins Schloss fallen. Sie ist allein in der Wohnung. Sie verlässt die Küche. Sie tritt in den Flur. Stellt sich vor den Spiegel und betrachtet sich. Träumt sie?
Sie geht die Treppe hoch, öffnet die Türe zum Dachboden und steigt die nächste Treppe zum Speicher hinauf. Hier oben ist sie schon recht lange nicht mehr gewesen. Hier liegt alles kunterbunt durcheinander. Sie geht in die Hocke und öffnet einen alten Koffer. „Toll“, sagt sie lachend und zieht eine uralte Schallplatte heraus. „Der Postillion“, Mutti hört ihn gerne und der existiert noch immer? Sie schaut sich um, wo der alte Plattenspieler steht und…, da steht er doch! Sein Fuß guckt unter einer staubigen Decke hervor. Sie hebt sie ab, wirft sie auf die Seite, legt den „Postillion“ auf und schon erklingen die ersten Töne. „Ach der Postillion“, sie beguckt und bestaunt ihn wie mit Kinderaugen.
Und während der Postillion munter in sein Horn bläst, zieht Huerriyet das Dachfenster auf. Sommerwind leicht wie ein Federwölkchen weht herein. Eine kleine Leiter steht parat. Sie stellt sie unter das Fenster. Hier hinauf steigt nur der Schornsteinfeger, aber nun die kesse mutige Huerriyet. Grazil wie ein Reh windet sie sich aus dem Fenster. Schon steht sie draußen. Sie ist eine Leicht-Figur. Kein Gramm Gewicht zu viel für ihr Tun. Man könnte sie glatt 4 oder 5 Jahre jünger schätzen. Die blonden Haare flattern ihr um den Kopf.
Gegenüber putzt Herr Faigenaert die Fenster seiner Wohnung. Er ist der Hausherr oder sagen wir Hausdiener. Er unterstützt seine Frau die unten im Haus eine Bügelstube betreibt. Ihre gleichaltrige Tochter ist bei der Mutter angestellt und fährt die Wäsche aus. Sie bügelt und hilft wo Hilfe gebraucht wird. Sie ist fleißig und vor allen Dingen zuverlässig. Sie wird von der Kundschaft geliebt. Ohne sie, das spüren die Eltern, würde der Laden nicht so gut im Gespräch sein, zumal die Kundschaft wächst und wächst.
Catherine heißt die Tochter. Sie wird in Kürze Luebben Maertens heiraten. Sein Vater ist Großbauer im Ort. Noch hat er das Hofgut. Aber Luebben wird es von ihm erben.
Herr Faigenaert hat das Wischen eingestellt. Er guckt wie hypnotisiert was seine junge Nachbarin tut. Er fragt sich allen Ernstes, was hat sie vor? Seine Tochter ist völlig fasziniert von Huerriyet.
Huerriyet sieht nicht die Besorgnis im Gesicht von Herrn Faigenaert. Sie atmet die herrlich frische Sommerluft und ist „high“ im wahrsten Sinne des Wortes. Sie gibt ihr den letzten Aufwind. Den entscheidenden Schritt das zu tun, was sie begeistert. Wie behext tun muss. Die Männerwelt mit ihrem Mut begreift sie nicht. „Übertrumpfen“ hat sie sich auf das Banner geschrieben. Sie balanciert leichtfüßig zum Dachrand und springt…
In der Zwischenzeit ist Luebben Maertens mit seinem Trecker und einer großen Fuhre frischgemähten Heus vorgefahren. Er ist aus dem Fahrzeug gestiegen und will das Scheunentor öffnen. In diesem Moment fliegt Huerriyet wie eine Daune auf das duftende, weiche dicke Polster von grünem Heu. Er ist im Schritt stehengeblieben und denkt, er hat geträumt…
Sie fiel wie eine Katze herunter. Wie von Engelshand liegt sie gebettet auf dem duftenden Heu. Engel haben aufgepasst. Nur so muss es gewesen sein. Anders kann es nicht abgelaufen sein.
Oder glaubt, wie Herr Faigenaert vermutet und fast überzeugt ist, Huerriyet, sie wäre heil auf dem Trottoir aufgesprungen? Auf beiden Beinen stehend? Unversehrt? Dass Luebben vorgefahren ist, konnte sie nie im Leben gesehen haben. Das Dach steht vor.
Schade, dass er das nicht im Foto festgehalten hat. Er hätte es seiner Familie gezeigt mit den Worten: „Schaut unsere Nachbarin Huerriyet. Sie ist ein Kiebitz. Jetzt fliegt sie aus dem Nest.“
Klar, dass sie wieder ins Fernsehen kommt. Vielleicht schon heute Abend. Garantiert sehen die Leute in dieser Straße, wie sie vom Heuwagen heruntersteigt. Oder springt sie auch da runter?
Herr Faigenaert hat sie genau vor seiner Nase. Huerriyet sieht ihn am Fenster stehen. Er guckt sie verschleiert an. Unwirklich. Sie winkt ihm.
Herr Faigenaert ist restlos verwirrt. Er fühlt sich fast betäubt. Er winkt zurück.
Fantasiert jetzt Herr Faigenaert?
So ist das im Leben. Ein Schutzengel war im Dienst.
Hat das Huerriyet erkannt?
Entwischt
Personen:
Ezzo Olaf Laue von Eulenburg
Kaja Emma geb. Nazaire, Ehefrau
Dr. Daniel Wega, Mediziner, Sohn
Bärbel Mira, Seismologin, Tochter
Friedrich Wilhelm, Großvater
Enzio Ditte Selander
Emmi, geb. Berg, Ehefrau
Antje, Judith, Henni, Sira, Töchter
Die Familie Laue von Eulenburg gilt als angesehen in ihrer Stadt als auch im Land. Kaja Emma ist eine bekannte Sportlerin. Sie hat sich verdient gemacht in der Jugend- und Erwachsenen-Schwimmabteilung in F.
Ihr Sohn Dr. Daniel Wega, 28 jährig und Tochter Bärbel Mira, 25 jährig, Seismologin auf Tahiti in Polynesien, sind beliebt. Die Kinder haben die Volksschule in F. besucht und anschließend ihr Abitur im Gymnasium „Gutenberg“ abgelegt. Beide wollten studieren und verließen daraufhin ihren Geburtsort.
Daniel Wega leistete zunächst seine Bundeswehr-Dienstjahre ab und entschloss sich, in Schweden Medizin zu studieren. Während der Studienzeit kam er mehrmals im Jahr zu Besuch. Seine Semesterferien nutzte er zur Weiterbildung in deutschen und südafrikanischen Krankenhäusern. Weder von ihm noch von seiner Schwester hat man je Negatives gehört. Für die Nachbarn und Bewohner von F. gilt die gesamte Familie als leutselig und vertrauenswürdig.
Bärbel Mira lebt, wie sie sich ihrer Freundin Frauke anvertraute, seit etwa 5 Jahren auf Tahiti. Die Seismologie, ein hochinteressantes Fachgebiet, ist ihr sozusagen ans Herz gewachsen und lässt sie nicht mehr los.
Ihr Vater Ezzo Olaf ist im Verhältnis zu seiner Ehefrau ein stilles Familienmitglied. Er ist sozusagen unsichtbar. Täglich fährt er morgens mit dem Zug um 7:30 Uhr nach D. zu seinem Arbeitsplatz. Pünktlich kommt er mit dem Zug kurz nach 19:00 Uhr zurück.
Weder Nachbarn noch der Pfarrer wissen mehr von ihm. Das einzige Auto der Familie, ein alter Mercedes, wird ausschließlich von Frau Laue von Eulenburg gefahren. Die Familie kennt keine Launen und Marotten.
Und nun heißt es: Der Senior der Familie ist spurlos verschwunden.
Entführung? Wie kann das sein?, fragen sich die Leute. Solch ein netter, hochanständiger Mensch, verschwunden? Frau Laue von Eulenburg hat die Polizei verständigt.
Sie gibt zu Protokoll: „Ich habe abends das Essen zubereitet und kurz nach 19:00 Uhr mit seinem Kommen gerechnet. So wie jeden Tag. Er ist aber nicht gekommen. Als er um 23:00 Uhr noch immer ohne ein Lebenszeichen ausgeblieben ist, habe ich mir große Sorgen gemacht. Aber na ja, habe ich mich beruhigt, vielleicht hat er eine wichtige Arbeit im Amt fertig machen wollen. Als Mitternacht vorbei war, dachte ich zunächst an einen Anruf bei meinem Sohn. Nach kurzem Überlegen habe ich es aber gelassen. Wie viel Unruhe kommt bei einem solchen Anruf auf? Die Familie ängstigt sich und an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Ich selbst habe die Nacht keinen Schlaf gefunden. So etwas hat es in unserer 30 jährigen Ehe noch nie gegeben. Heute Morgen um 7:00 Uhr habe ich die Polizei verständigt und gleich danach meinen Sohn Daniel Wega angerufen. Er ist total verblüfft und sagt, dass er sofort heimkommen wird.“
Die Polizei versuchte sie zu beruhigen. Sie hat abgewehrt und klar gemacht, dass sie in größter Sorge ist und das Schlimmste befürchte. Darauf haben die Beamten entsprechend reagiert. Krankenhäuser, Bahnhöfe, Flughäfen wurden sofort informiert und abgefragt. Die nötigen Vorkehrungen werden augenblicklich getroffen.
Mutter und Sohn sitzen noch immer im Dienstzimmer des Polizeimeisters. Sie sind beide erregt und versuchen, das Aus-bleiben des Vaters verständlich zu machen.
„Beim Einwohnermeldeamt ist der Name Laue von Eulenburg nicht aktenkundig. Wie kann das denn sein?“, fragt Frau Laue von Eulenburg. Daniel Wega ist milde gesagt erschrocken.
Der Polizist kennt die Familie, ist selbst wohnhaft im Ort, er leidet mit ihnen. Er versucht sein Bestes und will Geduld predigen. Aber die beiden mit ihren verschreckten Gesichtern, kann er damit nicht erreichen.
Sie verlassen das Polizeigebäude und gehen nach Hause. Den Sohn, aber auch die Mutter, drängt es, das Schreibzimmer des Vaters aufzusuchen. Also steigen sie die Treppe zum Dach-geschoss hinauf. Der Vater hatte sich, um ungestört zu sein, das Zimmer unter dem Dach eingerichtet. Für die übrige Familie war dieser Bereich stets tabu.
Sie stehen vor dem Schreibtisch, der Sohn will die Schublade aufziehen, aber sie ist verschlossen.
„Mutter wo ist der Schlüssel?“
„Der Schlüssel? Ja wo soll er sein? Den hat Vater sicher ein-stecken.“
Sie suchen zunächst auf dem Büchergestell und im Schränkchen daneben. Der Schlüssel bleibt verschwunden.
„Was machen wir jetzt?“, fragt sie ihn.
„Ich würde die Schublade aufbrechen“, antwortet Daniel Wega. „Aufbrechen?“, fragt seine Mutter erschrocken. „Na klar, du hast Recht. Breche sie auf, eine andere Möglichkeit sehe ich auch nicht.“
Daniel Wega kniet sich, mit beiden Händen versucht er die Schublade von hinten zu fassen. Er tastet und tastet, aber er kommt nicht hinein. „Wo ist der Brieföffner?“
Seine Mutter beguckt die Schreibtischfläche und greift den metallenen Brieföffner.
Mit Gewalt steckt der Sohn den Brieföffner zwischen Lade und Schreibfläche, hebt, dreht, endlich knackst und splittert es. Er schiebt die Schublade auf. Total vergilbtes Papier kommt zum Vorschein. Aktienpapiere, Papiere für Dividenden, Renditen und Zinsen, allesamt vergilbt, liegen auf und übereinander. Beide greifen zu und sind wie betäubt, was die Schublade ihnen offen-bart. Das haben sie weder geahnt noch gewusst. Sie sind voll-kommen überrascht. Das hätten sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt. Sie, die Ahnungslosen…
Beide haben sich gesetzt und blättern und lesen. Ihre Verblüffung können sie augenblicklich nicht wegstecken. Es ist zu viel was sie jetzt erleben.
Der Großvater Friedrich Wilhelm so lesen sie, war mit seinem Bruder Karl Otto im Jahre 1920 nach Mexiko ausgewandert. Dort haben beide abenteuerlich nach Gold gesucht. Der Bruder des Großvaters wurde fündig mit einem erheblichen Schatz. Er teilte ihn mit Friedrich Wilhelm. Der ging dann zurück nach Deutschland. Der Bruder Karl Otto hat die Abenteuer allerdings weiterhin gesucht.
Hier angekommen, muss Friedrich Wilhelm wohl gleich gebaut und geheiratet haben.
„Das ist ja im wahrsten Sinne unglaublich“, sagt die Mutter.
„Ich kann es nicht fassen“, antwortet ihr Sohn.
„Und was mich ehrlich wundert“, sagt Frau Laue von Eulenburg, ist, dass sich das Büro von Vater bis jetzt noch nicht gemeldet hat.“
„Das hat sich noch nicht gemeldet?“, fragt der Sohn überrascht.
Sie legen die Papiere auf den Tisch und gehen, fast traumwandlerisch, die Treppe nach unten.
„Ich rufe jetzt seine Dienststelle an“, sagt die Mutter, sucht die Nummer und wählt. Augenblicklich meldet sich das Amt für… und Frau Laue von Eulenburg sagt, dass sie ihren Mann Ezzo Olaf Laue von Eulenburg als vermisst melden muss.
Der Bedienstete bleibt zunächst still, aber als Frau Laue von Eulenburg sich erneut meldet, gibt ihr der Anrufer zu verstehen: „Ein… wie sagten Sie, gnädige Frau? Nein, nein, ein Bediensteter diesen Namens ist hier fremd.“
„Aber, aber, hören Sie…“
„Tut mir leid, ich kann Ihnen keine andere Auskunft geben. Dieser Name ist hier unbekannt.“
Frau Laue von Eulenburg hat sich hingesetzt.
„Was ist?“, fragt Daniel Wega.
„Unser Vater ist unbekannt im Amt.“
„Waas?“ Daniel Wega guckt sie ungläubig an. „Was ist denn das für eine Auskunft?“
„Wer kann uns erklären, was hier gespielt wird?“, will seine Mutter wissen.
„Ich bin sprachlos“, sagt Daniel Wega. „Mutter wir gehen zur Polizei. Das ist ja eine unfassbare Angelegenheit, die nur die Polizei aufklären wird.“
Nun sitzen beide, wie man sieht fassungslos, im Dienstgebäude der hiesigen Polizeistation. Polizeimeister Klarberg hat sie sofort empfangen. Er ruft den Kollegen Grauer herein und fragt ihn nach dem neuesten Fall in D.
Kollege Grauer kommt gerade mit ein paar Papieren in der Hand zur Türe herein. Die beiden kramen und bereden sich.
„Wir haben seit heute Früh eine weitere Vermissten-Anzeige auf dem Tisch. Ich möchte sie bitten, uns ein Foto von ihrem Ange-hörigen auszuhändigen.“
Frau Laue von Eulenburg öffnet ihre Handtasche und holt ein Foto ihres Mannes heraus. „Dieses Foto“, sagt sie zu den beiden Polizisten „habe ich in diesem Jahr von meinem Mann im Garten aufgenommen. Es ist ein neues Foto.“
„Wir werden dieses Foto sofort nach D. mailen. Vielleicht kommen wir dann in einem der beiden Fälle weiter.“
Die Polizei hat das Foto nach D. gemailt. Frau Selander, die ihren Mann Enzio Ditte Selander als vermisst gemeldet hat, sitzt hier seit 2 Stunden tief betrübt mit ihrer Tochter Judith, die in England lebt und gestern Abend mit dem Flugzeug gekommen ist.
Polizeimeister Brüderle händigt ihr das Foto aus und fragt: „Kennen Sie diesen Mann?“
Frau Selander nimmt das Foto in die Hand, blickt ungläubig darauf. Reicht das Foto ihrer Tochter und beide stottern „das ist unser Vater, mein Mann. Genau, das ist mein Mann. Wo haben Sie das Foto her? Mein Mann ist immer auf Nachtschicht gewesen. Jeden Morgen kam er pünktlich um 9:00 Uhr zurück. Sie konnten den Wecker danach stellen. Ich öffnete ihm die Haustüre. Wir waren total aufeinander eingespielt. Ja was ist denn jetzt anders? Warum ist er gestern und heute nicht heimgekommen? Wo ist er plötzlich geblieben?“ Sie schluchzt und fällt vom Stuhl.
Frau Laue von Eulenburg sitzt mit ihrem Sohn erwartungsvoll bei der Polizei in F. die sie Momente später informiert: Ihr Mann, bzw. Vater, hat eine Doppelrolle gespielt… Er ist der Vermisste der heute Morgen in D. gemeldet wurde.
Die beiden Ahnungslosen sperren den Mund auf. So etwas hält das Leben für sie bereit? „Aber“, und diese Frage stellt Frau Laue von Eulenburg erneut: „Wo steckt denn unser Vermisster? Lebt er noch?“
Die Polizei hat die Meldung rundum im Land veröffentlicht.
Vor einem Vierteljahr hat die Universität eine Ausschreibung:
„1 Jahr in Quarantäne“ gestartet. Probanden werden „mit einer hohen Summe“ abgefunden. Ermittelt werden neue Erkenntnisse in Bezug auf Gesundheit, Nahrung, Wasser, die Zukunft betreffend.
Die Polizei hat sich mit dem Büro von Prof. Dr. Müller-Hagen in Verbindung gesetzt und erhält die Auskunft: Der Gesuchte lt. Foto, ist in Quarantäne. Die „Ermittlung für die Zukunft“ ist hoch brisant und darf, auch aus Kostengründen, nicht unterbrochen werden.
Die beiden, Mutter und Sohn, werden informiert und das Ungläubige in ihren Gesichtern ist geradezu greifbar. Die Polizei ergänzt, es werde zwischenzeitlich Strafanzeige erstattet, denn eine Ehe, das ist doch wohl klar, ist zu viel geschlossen worden.
Herr Ezzo Olaf Laue von Eulenburg alias Enzio Ditte Selander, hatte sich pünktlich auf diese Ausschreibung gemeldet und den Zuschlag erhalten.
So einfach kann das Leben sein. Pünktlichkeit ist entscheidend.
Wie sagte Gorbatschow?
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Na, das passt doch prima.
Das Leben ist die turbulenteste Wirklichkeit.
Von Federico Fellini ist der Satz bekannt:
Für jeden kommt der Zeitpunkt,
an dem er von seinem Gewissen eingeholt wird.
Manches bleibt zunächst verborgen, aber die Sonne bringt es an den Tag.