Die Schuldigen

Leseprobe „Die Schuldigen“

… Henriette erzählt ihrer Tochter, dass vor langer Zeit ein Mädchen durch einen Schneeball zu Tode kam. Ein junger Mann hatte einen Stein in den Schneeball gesteckt. Wer der Werfer war, ist niemals herausgekommen. „Ich kann dich nur warnen. Meide die Straße. Kommt denn dieses Schneespiel niemals aus der Mode? Auch ein Schneeball ohne Stein ist ein schmerzhafter Eisklumpen. Überhaupt, die Männer sollen sich zuhause beschäftigen oder mal ein Buch lesen.“

Der Januar ist zur Hälfte vorbei. Henriette ist von einer Schulkameradin zum 75. Geburtstag eingeladen. Die Schulkameraden, die übrig geblieben sind, will sie um sich haben. Sie sind zu Kaffee und Abendessen in ein Lokal außerhalb eingeladen, wo sie gemeinsam hinfahren.

Es ist der 7. Januar. Etta kommt von ihrem Arbeitsplatz und kauft unterwegs im Konsum für den Abendbrottisch ein. Sie drückt die Haustüre auf, geht in die Küche, hängt ihren Mantel im Flur auf den Haken und ist mit ihrem Einkauf beschäftigt, als die Küchentüre aufgeht und Hajo hereinkommt.

Sie steht in der Türe der Speisekammer. Plötzlich zerrt er sie herum. Sie weiß nicht wie ihr geschieht. Mit einem herben Schlag landet sie auf dem Küchenboden. Sie kringelt sich voller Furcht ein. Er tritt ihr gegen Arme und Körper. Er schreit: „Du bringst uns um den guten Ruf. Wir verlieren unsere Ehre durch dein schändliches Benehmen.“ Er schlägt mit beiden Händen auf sie ein, egal was er trifft und schreit so laut er kann, „du Nichtsnutz, du gemeines Luder…“

Die Türe geht auf, Eugen kommt herein und faucht: „Was machst du Hajo? Schämst du dich nicht?“ Er stößt und reißt ihn zur Seite in der geräumigen Küche, er ist größer und stärker als Hajo. Er schreit: „Etta steh auf, steh sofort auf.“

Etta rappelt sich auf die Beine, rennt in den Flur, die Treppe hoch ins Zimmer und schließt ab. Sie wirft sich aufs Bett, weint und klagt in die Kissen: „Oh Mutter, oh Hansi, oh lieber Gott hilf mir…“

Henriette kommt gegen 21.00 Uhr nach Hause. Sie wundert sich, dass alles dunkel ist. Sie betritt die Küche und ist erstaunt, dass Etta nicht da ist. Auf dem Tisch liegen Butter und eingewickelter Käse. Warum sind die Sachen nicht weggeräumt? Komisch…

Die Buben gehen abends häufig ihrer Wege. Aber weshalb ist Etta nicht da? Vielleicht ist sie bei ihrer Freundin Hilde? Sie nimmt sich die Zeitung, aber der Sinn steht ihr nicht danach. Sie räumt ihre Handtasche aus und geht hinaus in den Flur. Sie steht und überlegt, geht die Treppe hoch und als sie an Ettas Zimmer vorbei gehen will, überlegt sie, ob sie die Türe öffnen soll. Aber dann lässt sie es sein und geht in ihr Zimmer. Sie zieht sich aus und legt sich schlafen. Aber mit dem Schlafen wird es zunächst nichts und der Tag läuft nochmal in ihrem Inneren ab. Wilhelmine und Agnes tauchen auf. Der Mann von Wilhelmine ist kürzlich verstorben, aber trotzdem ist sie zum Geburtstag gekommen. Sie hat Recht, überlegt sie. Allein zuhause kann sie noch genug sein. Raus aus den Tapeten, das hilft unbedingt weiter. Morgen werde ich Selma erzählen, wie schön der heutige Tag war. Dann hört sie Bewegung im Haus. Die Neugier plagt sie, sie steht auf und guckt nach, wer nach Hause kommt, Hajo oder Eugen. Sie macht ihr Nachttischlämpchen an, geht zur Türe und öffnet. Es ist Eugen.

„Eugen, ich bin vor einer halben Stunde heimgekommen und alles war dunkel. Weißt du wo Etta ist?“

„Etta wird schon schlafen, das glaub ich bestimmt.“ Er kommt die Treppe hoch und steht bei ihrer Türe, er horcht… „Sie schläft, Mama, sei unbesorgt. Ich gehe auch, ich muss ja morgen beizeiten aufstehen. Schlaf du auch gut. War‘s schön bei deinen Schulkameradinnen?“

„Ja Junge, ich bin froh, dass ich mitgefahren bin. Es war wirklich ein schöner Tag. Wir haben gesungen und gelacht. Wir haben uns erzählt von alten Zeiten, schön war‘s. Zweifellos. Schlaf schön, gute Nacht Eugen.“

Etta hat vergessen den Wecker zu stellen, aber sie erwacht, als es noch stockdunkel ist. Sie macht ihr Nachttischlämpchen an und schaut auf den Wecker. „Schon halb sieben? Da bin ich ja punktgenau aufgewacht.“ Ihre Hüfte tut weh. Ihre Arme tun weh. Sie fühlt sich nicht wohl, aber sie muss aufstehen. Sie muss… Sie überlegt nicht lange und tut, was von ihr erwartet wird. Als sie durch das Treppenhaus geht, herrscht tiefe Stille. Sie sieht im Flur, dass die Jacke von Eugen weg ist. Also Eugen ist zur Arbeit. Eigentlich müsste doch Mutter schon in der Küche sein, aber es ist alles still im Haus. Mutter wird wohl tief und fest schlafen. Sie hat sie nach Hause kommen hören. Wo Hajo steckt, ist ihr total schnuppe. Ich werde weder Mutter noch Hansi von seinem frechen Auftreten etwas sagen. Mir gegen den Körper treten… Und wie er mich hingeschmissen hat. Ich habe mir schlimm wehgetan. Ich soll unseren Ruf schädigen? Und er darf saufen, soviel er will? Was würde Vater sagen, wenn er das erleben würde?

Sie hat Kathreiner aufgegossen und sich eine Scheibe Brot mit Butter und selbstgemachtem Zwetschenmus bestrichen. Sonst hat sie morgens Appetit, aber heute ist ihr echt zum Erbrechen übel. Kein Wunder, das hat mit der Attacke von Hajo zu tun, da ist sie sich ganz sicher.

Sie steckt ihr Frühstück ein, zieht die alten Strümpfe vom Großvater vorsichtshalber über die Schuhe, zieht den Mantel über und geht aus dem Haus. Nach ein paar Schritten bemerkt sie, dass sie ihre Kappe vergessen hat. Als sie die Hälfte ihrer Strecke zum Krankenhaus gelaufen ist, fängt ihre Hüfte an zu schmerzen. Sie macht kleine Schrittchen, bleibt stehen, versucht weiterzugehen und peu à peu gelingt es ihr.

Sie ist angekommen und nimmt ihre Arbeit auf. Ihre Kollegin ist schon beschäftigt und staunt, dass sie später kommt. „Na Etta, man kommt nicht so gut voran heute früh. Der Winter behauptet sich. Es ist stellenweise glatt. Hast du dir auch alte Socken über die Schuhe gezogen? Was Besseres gibt es nicht… Mein Weg hierher ist noch weiter als deiner. Im Sommer ist er schöner zu laufen. Wenn‘s doch nur schon Sommer wäre.“

Der Vormittag geht zu Ende. Sie ist zur Toilette gegangen. Irgendwie fühlt sie sich miserabel. Ob ich mal Dr. Krünter aufsuchen soll? Dr. Krünter ist Eringsfelder, praktischer Arzt und unterhält eine Sprechstunde im Krankenhaus. Vor ca. einem Jahr hatte sie sich bei der Arbeit verletzt und ihn aufgesucht. Er kennt sie. Sie kommt zurück in den Flur und hängt ihre Kittelschürze in den Spind. Es ist knapp 12.00 Uhr. Unverzüglich geht sie zu seiner Praxis und hat Glück, er ist noch anwesend. Schwester Amalie fragt, ob sie als Patientin komme. „Ja“, sagt Etta, „ich möchte Herrn Dr. Krünter unbedingt sprechen.“

„Einen Augenblick bitte…“ Nach wenigen Momenten kommt sie zurück und bittet sie, ins Sprechzimmer zu gehen. Etta tut wie ihr geheißen…

„Hallo Etta, hast du Gesundheitsprobleme? Was kann ich für dich tun?“

„Herr Dr. Krünter, ich habe gestern nicht aufgepasst und bin zuhause fast die ganze Treppe heruntergefallen, mein Po, meine Hüfte, alles blau und gelb, die Arme, sehen Sie, außerdem ist mir übel…“

„Na, das ist keine lustige Geschichte. Soll oder muss ich sie glauben? War sie nicht ein wenig anders? Ich frage nur… Weißt du, ich soll oder muss mir häufig Märchen anhören und im Grunde genommen ist der Hintergrund ganz anders. Soll ich dir helfen? Das erwartest du von mir. Oder? Setzen wir uns erst mal und…“

Etta spürt die Röte im Gesicht. Sie hat gebeichtet, dass sie schwanger sei. Das mit dem Sturz sei nur halb wahr. Nachdem er ihre Arme begutachtet hat, schreibt er 2 Medikamente auf. „Mit der Übelkeit musst du vorerst mal fertig werden. Das ist ein Phänomen, mit dem andere Frauen häufig zu tun haben. Im wievielten Monat bist du?“

Etta sagt es ihm.

„Wenn du dich nicht wohl fühlst, dann geh nach Hause und leg dich für den Rest des Tages hin. Morgen wird es dir hoffentlich besser sein.“ Etta bedankt sich und geht.

Der verpasste Moment

Wilfried Borgstede und Ilse Reymann sind Einzelkinder. Ihr Geburtsort ist Blumenau. Im Kindergarten haben sie sich kennengelernt, als sie im Sandkasten spielten. In der Volksschule festigt sich ihre Kinder-Freundschaft. Danach wechseln sie zum Gymnasium, das sie mit dem Abitur verlassen.

Sie verlieren sich nicht aus den Augen. Bleiben sich freundschaftlich verbunden. Wilfried will Mediziner werden, studiert in Gießen und Marburg. Er geht für 1 Jahr nach Amerika. In seinen Ferien lernt er Afrika kennen und gleichwohl die ärmlichen Verhältnisse in Kenia. Ilse wählt den Beruf der Goldschmiedin.

Als Wilfried die beklemmenden Bedingungen in Kenia wahrnimmt, schreibt er herzzerreißende Briefe nach Hause. Ilse entscheidet sich für einen „Erste Hilfe Kurs beim DRK“ und fliegt nach Kenia. Sie ist erschüttert wie er, bewirbt sich um eine Anstellung und hilft nach besten Kräften mit.

Die Gemeinsamkeiten schweißen zusammen. Sie werden sozusagen: Ein Herz & eine Seele. Sie sind jung. Sie lernen die Extreme des Alltags im afrikanischen Leben, also „außerhalb“ Europas, kennen. Der europäische Alltag ähnelt in keiner Weise dem afrikanischen. Sie spüren die nackte Wirklichkeit pur.

Ein Jahr später kommen sie zurück nach Blumenau. Was sie erlebt haben, behalten sie für sich. Hier in der alten, gepflegten Ordnung und Umgebung gelten andere Gesetzmäßigkeiten. Wilfried hat seinen Doktortitel erworben und richtet sich seine Praxis im Stadtzentrum ein.

Ilse entscheidet sich ebenfalls zur Selbständigkeit. Sie beschließt, ihr Geschäft in einem Neubau mitten in der City einzurichten.

Sie heiraten und laden alle dazu ein, die ihnen während ihres bisherigen Lebens, vom Kindergarten bis heute, nahestehen. Es wird eine große Hochzeitsfeier, ca. 100 Personen an der Zahl, die im hiesigen Lokal „Bergmann“ stattfindet. Eine 3-Mann-Kapelle spielt zum Tanz auf.

Sie erleben einen modernen, gehobenen Status. Sie verkehren mit Persönlichkeiten. Sie reden mit. Wilfried kann nicht klagen, er hat Personal eingestellt, die Apparatur für Röntgenbilder wird gebraucht. Seine Praxis wird gut besucht. Hausbesuche macht er lediglich bei Privatpatienten.

Ilse ist eine ideenreiche Schmiedin für Schmuckgegenstände. Nicht nur Broschen, Ringe und Ketten, auch Tisch- oder Wandschmuck entwirft sie auf interessante Art. Ihr Geschäft ist exklusiv zu nennen. Sie inseriert in Hochglanzbroschüren. Sowohl Verkaufspersonal als auch ausgebildete Designerinnen hat sie eingestellt.

An Ausstellungen nimmt sie teil. Bei Festlichkeiten im städtischen Rahmen ist sie die begehrte Adresse. Gottseidank sind die Zeiten friedlich; die Bevölkerungsschichten haben Anteil an Vergnügungen jeder Art.

Eigentlich hat sich Ilse Kinder gewünscht, aber ihre Geschäftigkeit ist pausenlos. Kommt ihre Mutter zu Besuch, das ist nicht allzu oft, erinnert sie ihre Tochter ungeduldig an das Familienleben. „Du wirst älter und älter und eines Tages, mein liebes Kind, hast du den Moment verpasst. Daran muss ich dich erinnern…“

Ihr Vater hat sich letztes Jahr davongemacht. Nach einem Schlaganfall war jede Dynamik aus seinem Körper gewichen. Er schleppte sich mühsam durch den Sommer und zu Anfang des Herbstes schlief er für immer ein. Ihre Mutter tut sich schwer, den Verlust zu akzeptieren. Sie fühlt sich einsam in ihrem großen Haus, auf das sie immer sehr stolz war. Sie hatte sich gewünscht, dass Ilse das Haus mit Leben füllt, aber nun erlebt sie eine fremde Ilse.

Wilfried hat bei Einrichtung seiner Praxis 2 Frauen mit medizinisch-technischer Ausbildung eingestellt. Es ist Doreen Boehm, die ihn vor wenigen Wochen um Mutterschaftsurlaub bat und Liesel Stadler. Seine Praxis existiert seit sieben Jahren. Für die scheidende Angestellte hat er Ingelore Hiller, eine examinierte Krankenschwester engagiert. Frau Hiller ist eine Frau mit natürlicher Ausstrahlung. Sie hatte ihn angerufen und um ein Gespräch gebeten. Er nannte ihr den Mittwoch gegen 17.00 Uhr.

Da die Sprechstunde mittwochnachmittags geschlossen ist, klingelt sie und er öffnet die Tür.

Wie eine Zauberfee steht sie vor ihm. Er schaut in ihre warmen reh­braunen Augen, sieht ihren entzückenden Lockenkopf, und? Er ist futsch & hin. Liebe auf den ersten Blick… So ist das Leben.

Ihr geht es genauso. Sie schaut ihn an und weiß: Er gehört zu mir. Das Gespräch begann und endet wie unter Altbekannten. Ingelore Hiller kommt am darauffolgenden Montag zur Arbeitsaufnahme in die Praxis. Bei Patienten und Kolleginnen ist sie beliebt.

An einem Donnerstag nach Abschluss der Sprechstunde, kommt überraschend Ingelore Hiller in sein Zimmer. „Hallo Wilfried“, sagt sie, „ich will dich nur daran erinnern, dass ich morgen nicht komme…“

„Ach“, antwortet er, „das habe ich gänzlich verschwitzt, gut dass du mich erinnerst.“

Sie setzt sich ihm gegenüber und legt die Hände vor sich auf den Schreibtisch. Er schaut sie an, legt seine Hände auf ihre und lacht. „ Eigentlich kennen wir uns und trotzdem…, du bist was Besonderes. Du bist nicht nur Ingelore, nein, du bist ein Schatz. Mein Schatz!“

Er steht auf. Sie steht auf. Dicht voreinander blicken sie sich prüfend in die Augen…

So geschehen Wunder…

Dieses Erlebnis hat aus Wilfried einen Glücksprinzen geschaffen. Seit diesem Moment trägt er es mit sich herum. Sich bei Ilse rechtfertigen? Nein. Das Zusammenleben mit ihr hat sich abgekühlt. Daran hat sie selbst mitgewirkt.

In diesem Jahr wird er 40 Jahre alt. Er hat sich seit seiner Verheiratung mit Ilse Nachwuchs gewünscht. Untereinander sprechen sie dieses Thema nicht an. Er hat allerdings das Gefühl, Ilse hat sich in ihre Materialien verliebt. Innerlich ist er im Laufe der Jahre auf Distanz gegangen und schweigsamer geworden.

Nun hat er eine große Geburtstagsfeier geplant. Sein Bekann­tenkreis ist gewachsen. Er ist Mitglied in verschiedenen Vereinen, seine Schulkameraden laden ihn jährlich ein, er will sich endlich mal revanchieren. Verschiedene Lokalitäten, wo das Fest gefeiert werden könnte, hat er im Auge. Ilse ist der Meinung, dass es mitten im Sommer auf der grünen Wiese stattfinden kann…

„Die Halle in der Nähe des Festplatzes mit Toiletten sollten wir mit einbeziehen. Sofern ein Regenguss naht, ist die Halle für uns Goldwert. Denk mal drüber nach“, sagt sie zu ihm.

Nach einer fast schlaflosen Nacht hat er eingesehen, dass Ilse Recht hat. Frauen haben immer einen besseren Riecher, hat ihm früher schon seine Mutter verraten. Von einer Service-Firma wird das Kulinarische geliefert, Getränke liefern Rapids & Söhne. Weitere Überlegungen plagen auch Ilse. Ihre Schwiegereltern mischen mit. Wilfried ist ihr einziger Sohn. Er kennt es nicht anders, als dass sie bemüht sind, das Beste zu wollen. Am kommenden Samstag wird das Fest stattfinden. Die Vorbereitungen sind größtenteils abgeschlossen.

Ilse kommt sichtlich zufrieden pünktlich ins Geschäft. Sie will endlich mit dem vorbestellten Tischschmuck für Familie Wollmann beginnen. Ihr Lehrmädchen Heike Vasari ist in der Schule. Steffi Lindau, ihre rechte Hand, arbeitet heute lediglich nachmittags, um 14.00 Uhr beginnt ihre Arbeit.

Ilse legt sich die Materialien zurecht. Metall und Holz werden gewünscht. Ein ovaler Stein von der nordischen Küste, den Ulrike Wollmann als 8-jährige in den Sommerferien 1948 gefunden hatte, wird Blickpunkt werden. Er liegt bereits auf ihrem Arbeitstisch. Sie hat ihn schon öfters betrachtet und begutachtet und nimmt ihn augenblicklich wieder zur Hand. Sie dreht und wendet ihn, studiert ihn und ihre Inspiration wird lebendig…, eigentlich wie immer.

Gegen 12.00 Uhr geht die Ladentüre auf und ein großgewachsener Mann tritt ein. Ilse sitzt an ihrem Arbeitstisch und blickt auf. Sie erkennt ihn sofort an seinen stahlblauen Augen wieder. Letzte Woche, genau heute vor acht Tagen, war er hier und wühlte eine halbe Stunde in Ringen und Ketten. Dann ging er, ohne etwas zu erwerben.

Dass er diesen Laden betritt, dafür hat sein Spezi Robbie gesorgt, der 14 Tage die Lage auskundschaftete. Im Cafe gegenüber saß er gerne morgens als auch nachmittags am Fenster, genoss Kaffee, Kuchen und Panorama. Zwischendurch warf er einen Blick in die Zeitung.

Deshalb kann er zuvorkommend und überzeugend drauflos reden. Er weiß genau: Sie beide sind allein im Laden. „Hallo“, sagt er zur Begrüßung. „Gnädige Frau, erinnern Sie sich? Letzte Woche war ich hier. Ich habe mir verschiedene Ringe betrachtet und möchte heute den Achat-Ring kaufen.“

„Gerne“, sagt Ilse, kommt zur Theke, schließt die Schublade auf und legt sie auf den Tisch. Eine winzige Sekunde blickt sie zur Seite und in diesem Moment sticht der Mann mit einer Injektionsnadel zwischen Daumen und Zeigefinger. Ilse schaut ihn entsetzt an und sackt in die Knie. Sie liegt ausgestreckt hinter der Theke, von der Straße nicht einsehbar.

Augenblicke später ist der Mann mit reichlich gerafftem Schmuck, den er in die Manteltaschen fallen lässt, aus dem Laden verschwunden. Er geht das Trottoir ca. 20 m nach rechts, steigt in einen dunkelblauen Opel mit hiesigem Kennzeichen. Das Auto fährt los. Zwei Straßen weiter lenkt der Fahrer den Wagen ins Parkhaus und fährt in die 3. Etage. Sie steigen aus. Gehen zum Lift, fahren parterre, laufen gezielt zu einem Ford metallic mit Berliner Kennzeichen. Sie steigen ein und verlassen das Parkhaus.