Leseproben
Sonntags gingen wir spazieren
Was ist gerecht?
Lisbeth Muskat, geboren am 22. April 1865 in Ehringshausen, war Waise geworden. Sie war die Tochter des Dorfschmiedes. Zur Schmiede gehörten Wohnhaus, Stallungen mit Scheune und ein großer Hof mitten im Ortskern.
Sie bekam einen Vormund, der dem evangelischen Presbyterium angehörte. In dessen Familie wurde sie mit den eigenen Kindern erzogen.
Sie erzählte mir, ihrer Enkelin, dass sie ihr Abendessen aus Pellkartoffeln bestehend, abends im Flur auf der Treppe sitzend, alleine verzehrte.
Nachdem sie die Volksschule besucht hatte, brachte man sie in einen Judenhaushalt im nahegelegenen Wetzlar an der Lahn. Dort musste sie bei allen anfallenden Hausarbeiten mithelfen. Das waren Wäsche waschen und Küchenarbeiten, Brennmaterial herein holen, Zimmerpflege und mehr.
Zwischenzeitlich hatten die Pflegeeltern ihr Geburtshaus mit allen Gebäuden samt Grundstück verkauft. Ab diesem Zeitpunkt existierte im Haus eine Gaststätte, die vom Hauseigentümer als Gastwirt, über viele Jahrzehnte geführt wurde.
Lisbeth hatte inzwischen einen jungen Mann aus Ehringshausen kennengelernt. Mit 23 Jahren wollte sie heiraten und einen eigenen Haushalt gründen. Aus diesem Grunde kam sie zurück zu den Pflegeeltern und fragte nach ihrem Erbteil. Ihre Pflegeeltern erklärten: „Deine Erziehung hat das Erbteil verschlungen.“
Würde man in der heutigen Zeit die Erbteil-Lösung gerecht finden?
Würde man reagieren?
Wie würde man reagieren?
Sie selbst hat, ebenso wie ihre beiden Stiefschwestern aus der ersten Ehe des Vaters, zu keiner Zeit einen Pfennig ausbezahlt bekommen.
Kamen Angehörige am Elternhaus vorbei bat sie: „Schaut nicht auf das Fenster über der Eingangstreppe, es gehört zum Sterbezimmer meiner Mutter.“
Lebenslang hat sie unter der Demütigung gelitten.
Das ist mein Beitrag zur guten alten Zeit.
Was ist heute besser, die Zeit oder die Menschen?
Was ist mit der Gerechtigkeit?
Wird sie aktuell hervorgehoben?
Wird sie respektiert? Anerkannt? Geachtet?
Ist sie in Hessen, in Europa, auf der weiten Welt, endlich auf dem Vormarsch?
Die Vertrauensseligkeit
Eines Morgens, ich war etwa 4 oder 5 Jahre alt, laufe ich im Flur auf die Haustüre zu und sehe zufällig einen großen Schlüssel im Schloss stecken. Voller Überraschung greife ich nach ihm und probiere ihn zu drehen. Es gelingt mir nur unter Anstrengung.
Im Laufe der nächsten Stunden hatte ich das Ereignis beim Spielen mit den Nachbarskindern vergessen. Als der Tag zu Ende ging, und meine Mutter mich zum Schlafen brachte, sah ich den Schlüssel erneut. „Mama“, sagte ich, „wird die Türe abends abgeschlossen?“
„Wie kommst du denn darauf? Die Haustüre wird nie abgeschlossen. Stell dir vor, der Nachbar braucht nachts Hilfe und unsere Türe geht nicht auf. Das wäre ein schlechtes Benehmen; er könnte denken, wir trauten ihm nicht. Nein, mein liebes Kind, die Türe muss immer offen sein.“
Genau so war das.
Dann kam der Krieg und Vater wurde eingezogen. Die Zeiten wurden nach und nach unruhiger. Es gab Fliegeralarm. Die Bevölkerung in den Städten wurde mehr und mehr evakuiert. Die Juden waren schon abkommandiert worden. Das Land wurde judenfrei, Befehl von „oben.“
Unsere Nachbarin Hedwig lieh sich eines Tages unseren Schubkarren. Auf die Frage: „Was hast du vor mit ihm?“, sagte sie mit leiser Stimme, sie müsse mit ihren Habseligkeiten abreisen, sie habe ein öffentliches Schreiben erhalten. Später erfuhren wir, dass sie sich in einem Vernichtungslager zu melden hatte.
Ich weiß noch sehr gut, dass meine Familie wenige Tage später abends nach dem Essen zusammensaß und sich mit Großmutter unterhielt. Mutter war bemüht, in unserem „Volksempfänger“, das war das Radio zu dieser Zeit, einen deutschsprechenden Sender zu empfangen. Dabei durfte man nicht erwischt werden. Mit vielen Nebengeräuschen gelang ihr das recht und schlecht. Wir, das waren 3 Erwachsene und 2 Kinder, versuchten im Sprachgewirr zu verstehen, was gesprochen wurde, aber die vielen Zwischentöne störten.
Großmutter ermahnte sie: „Schalte lieber das Gerät ab, wir hören nicht, wenn die Haustüre aufgeht und ein Fremder eintritt. Es ist viel zu gefährlich. Heute Nacht schließen wir die Haustüre ab.“
Sofort ging Mutter zur Haustüre, bewegte den recht großen Schlüssel bis er sich aus dem Schloss wandte. Sie holte die Ölflasche, betupfte den Schlüsselbart, steckte den Schlüssel zurück ins Schloss und drehte zu.
Damit ging die „Vertrauensseligkeit“ endgültig schlafen.
Ein für alle Mal. Diesen Moment vergesse ich nie.
war während meiner Schulzeit in der kühlen Jahreszeit die Wärmequelle im Klassenraum.
Die Buben wurden Woche für Woche eingeteilt, Brennmaterial und Reisig bereitzulegen. Die Mädchen mussten Tinte für die Tintenbecher vorrätig halten. Außerdem musste an der großen Tafel immer Kreide vorhanden sein.
Der Herr Oberlehrer war sehr streng. Er gab Deutschunterricht. Bei den Kindern der Schule war er unbeliebt. Auf seine Fragen war unverzüglich zu antworten. Was als Hausaufgabe zu lernen gewesen war, hatte man in der nächsten Stunde zu wissen, sonst fiel das Zeugnis schlecht aus.
Eines Morgens rief er mir, dass ich gefälligst das Feuer schüren solle. Das verwirrte nicht nur mich, sondern auch die Schulkameraden. Aus Angst stand ich auf und tat wie mir geheißen war.
Als die Schule aus war, lief ich mit tränenden Augen so schnell ich konnte nach Hause.
Meine Mutter nahm mich in Empfang, staunend, dass ich nicht wie sonst lachte. Nein ich weinte, sie war betroffen und wollte wissen, was passiert sei.
„Haben die Buben…?“
„Nein, nein, nicht die Buben.“
„Aber Kind, warum weinst du?“
Ich erzählte schluchzend, dass mich der Herr Oberlehrer vor der Klasse gedemütigt hatte.
Sie versuchte mich zu trösten, dass er es sicher so böse nicht gemeint habe. In der Woche drauf hatten wir wieder Unterricht bei ihm und ich sollte erneut das Feuer schüren.
Mein Vater war inzwischen auf Heimaturlaub und traf den Herrn Oberlehrer auf der Straße. Er stellte ihn zur Rede, fragte ihn, was ich neuerdings falsch mache.
Jahre später, längst war ich erwachsen, hat mir mein Vater Auskunft über sein Benehmen gegeben. Er erklärte mir: „Seine und meine politische Einstellung war unterschiedlich.“
Sie beide kannten sich aus der gemeinsamen Schulzeit in der Nachbargemeinde. Ich frage mich noch heute: „War der Herr Oberlehrer ein Pädagoge?“
Erinnerungen erregen die Gedanken. Aber, kann / soll man sie ruhen lassen?
Eine Erinnerung an die Schulzeit
beschäftigt meine Gedanken, wenn ich morgens die Kinder in die Schule gehen sehe.
Es war vor Kriegsende, vielleicht 1943 oder 1944.
Üblich war, dass sich alle Schulkinder, bevor sie das Schulgebäude betraten, auf dem Schulhof in 2er Reihen aufstellten, die Mädchen extra und die Buben der Klasse daneben.
Die Lehrer standen währenddessen auf der 10-stufigen Treppe. Waren sie mit der Aufstellung zufrieden, mussten die Kinder den rechten Arm zum Führergruß heben und in dieser Haltung gemeinsam die erste Strophe des Deutschlandliedes singen.
Ohne Gedränge gingen sie dann die Treppe hoch und in ihre Klassenräume. Eines Morgens war das anders. Der Herr Oberlehrer rief den Schüler Martin Neuhaus auf. Martin ging zu ihm nach vorne.
Nichtsahnend schlägt ihm der Herr Oberlehrer mit der rechten und mit der linken Hand auf die Wangen. Das knallt laut. Martin ist erschreckt. Vor Schmerz stehen ihm die Tränen in beiden Augen, er blickt auf den Boden.
Der Herr Oberlehrer fragt ihn ob er wisse, womit er sich das verdient habe. Martin sagt kleinlaut „nein“ und der Herr Oberlehrer brüllt: „Sag das lauter.“ Martin tut wie ihm geheißen, er sagt gequält nein.
Laut, klar und deutlich sagt nun der Herr Oberlehrer:
„Du hast gestern meine Frau auf der Straße nicht gegrüßt.“
Ich bin heute noch erschrocken wie damals Martin.
War der Herr Oberlehrer ein Pädagoge?
Gehorsam
ist eine wichtige Erziehungsmaßnahme.
Es war in der Adolf-Hitler-Zeit. Der Führergruß war für alle Schulkinder Pflicht. Jedes Kind lernte die Strenge im Unterricht kennen.
Selbstverständlich waren sich die Lehrer gefühlsmäßig nicht gleich. Zweifellos bestraften sie nicht mit der gleichen Härte einen Tintenfleck. Aber die Kinder wussten sie zu unterscheiden. Sie fühlten sich zu dem einen hingezogen, während sie mit lauernder Furcht den Unterricht des anderen erlebten.
Üblich war, den Lehrer auf der Straße so zu grüßen, wie wir den Führer morgens auf dem Schulhof zu ehren hatten.
Begegnete uns der Lehrer auf der Straße während des Jahres oder innerhalb der Ferienzeit, hoben wir den vorgestreckten rechten Arm zum Gruß.
Nun war der Krieg aus. Der Schüler Horst begegnet eines Tages dem Herrn Lehrer. Was tut er? Er hebt den Arm mit Schwung und will, wie es immer üblich gewesen ist: Heil Hitler sagen, als der Herr Lehrer ihn augenblicklich anherrscht:
„Tust du den Arm herunter, schnell!“
Da soll noch einer die Welt verstehen. Der Hitlergruß war uns streng anerzogen. Jahrelang haben wir Kinder mechanisch den Arm gehoben. Nun sollte das falsch sein? Ja, was ist denn nun richtig?
Die politische Entscheidung ist die „Maßgabe“ für das Volk!
Es hat sich anzupassen! Zu parieren!
Die Deutschen erlebten es unter Hitler.
Unvergesslich!